Der Umgang mit Holocaust-Opfern ist kein Ruhmesblatt in der jüngeren Geschichte Österreichs. Seit 1945 wurden in diesem Staat immer wieder Opfer des NS-Terrors verhöhnt und Täter geschützt – oft durch sogar durch politische Intervention. Der Fall Franz Murer ist wohl eines der perfidesten Beispiele für den Umgang Österreichs mit der NS-Vergangenheit. 1963 wurde der „Schlächter von Wilna“ in einem Prozess freigesprochen und danach von der Grazer Bevölkerung mit Blumen empfangen. Ein preisgekrönter Spielfilm und ein Buch befassen sich mit den Ereignissen rund um das Gerichtsverfahren.
Der SS-Offizier Murer wütete in Litauen so bestialisch, dass er den Beinamen „Schlächter von Wilna“ bekam. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Vilnius etwa 75 000 Juden. Überlebt haben nur einige wenige. Für den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung war vor allem der Österreicher Franz Murer verantwortlich, der von Juli 1941 an als Referent des Gebietskommissars für Judenfragen Leiter des Gettos war und Entscheidungen über Leben und Tod traf – auch wenn er das später abstritt. 1943 wurde Murer abgelöst und als Lehrkraft an die NS-Führerschule Ordensburg Krössinsee berufen, wo er vermutlich bis 1945 tätig war.
Murer war für seinen Sadismus bekannt. Er es genoss es , seine Opfer zu verhöhnen. Manchmal waren es Hunderte, an manchen Tagen gar Tausende Opfer. Murer selbst suchte in der Altstadt von Vilnius das Gebiet für das Ghetto aus: In wenigen Straßenzügen pferchte man etwa 40.000 Menschen zusammen. Da zu viele Menschen im Ghetto leben, wurde die Bevölkerung bis zum November 1941 durch „Aktionen“ systematisch dezimiert: Tausende Juden – Männer, Frauen, Kinder – wurden zusammengetrieben, nach Ponary gebracht und dort erschossen. Immer wieder tauchte Murer selbst am Gettotor auf, um die von der Zwangsarbeit zurückkehrenden Menschen zu überprüfen. Seine Willkür und Brutalität brennt sich in das Gedächtnis der Überlebenden: Die Vorwürfe in den zahlreichen Zeugenaussagen reichen von Demütigung und Misshandlung bis zum Mord.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Franz Murer aus britischer Kriegsgefangenschaft zu seiner Familie in Gaishorn am See zurück. Aber die Vergangenheit sollte ihn immer wieder einholen: In den Zeugenaussagen und Dokumenten des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde Murers Beteiligung am Holocaust erwähnt. 1947 wurde er festgenommen und es wurden Ermittlungen beim Landesgericht für Strafsachen Graz wegen seiner Tätigkeit als Gebietskommissar der Stadt Wilna vorgenommen. Murer bestritt alle Anschuldigungen und wollte mit dem Ghetto niemals etwas zu tun gehabt haben. 1948 wurde er an die Sowjetunion überstellt, weil Vilnius inzwischen zur Sowjetrepublik Litauen gehörte. In Vilnius wurde er 1948 wegen u. a. wegen seiner Verantwortung für den Tod von über 5000 Juden von einem litauischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
1955 wurde Murer entsprechend den Vorgaben des Staatsvertrages an Österreich übergeben. Von der österreichischen Justiz wurde er nicht weiter verfolgt. Auf Initiative Simon Wiesenthals wurde Murer am 10. Mai 1961 auf seinem Hof verhaftet. Die Staatsanwaltschaft leitete umfangreiche Ermittlungen gegen ihn ein. 1962 wurde er wegen „Tötung und Misshandlung mit Todesfolge von sowjetischen Juden als leitender Angehöriger des Gebietskommissariats Wilna“ vor ein Grazer Gericht gestellt. Überlebende des Holocaust reisten aus mehreren Ländern an, um gegen ihn auszusagen. Trotz der erdrückenden Beweislage endete der Prozess 1963 mit einem Freispruch.
Murer durfte das Gericht als freier Mann verlassen, seine Anhänger jubeln. In Graz sind die Blumengeschäfte leergekauft. Für die Überlebenden der Hölle von Vilnius, die als Zeugen angereist waren, war der Freispruch ihres Peinigers weitere Demütigung. Was sich 1963 in diesem Grazer Gerichtssaal zugetragen hat, gilt mit Recht als größter Justizskandal der Zweiten Republik!
Murer – Anatomie eines Prozesses (Spielfilm):
„Murer – Anatomie eines Prozesses“ ist ein Spielfilm von Christian Frosch aus dem Jahr 2018. Die Premiere der österreichisch-luxemburgischen Koproduktion mit Karl Fischer in der Rolle des Franz Murer und Karl Markovics als Simon Wiesenthal erfolgte am 13. März 2018 im Rahmen des Filmfestivals Diagonale, wo die Produktion als Eröffnungsfilm gezeigt und als bester Spielfilm ausgezeichnet wurde.
Der Gerichtsfilm basiert auf originalen Protokollen und Dokumenten. Anhand des Falles Murer werden die Abgründe des österreichischen Umgangs mit der NS-Vergangenheit aufgezeigt. Hier geht es gar nicht mehr „nur“ um Verdrängung. Es ist viel schlimmer: Da wurde bewusst gelogen, Opfer- und Täterrollen wurden verdreht, Übelebende des Terrors gedemütigt und letztendlich kam es auch noch zu Interventionen von Politikern zugunsten eines Kriegsverbrechers, u. a. vom damalige SPÖ-Justizminister Christian Broda. Da wollten selbst die Sozialdemikraten ihre Wähler*innen vom rechten Rand nicht vergraulen. Letzendlich konnte ein Massenmörder nicht nur ein unbehelligtes Dasein führen, sondern auch noch als „aufrechter Österreicher“ Obmann der Landwirtschaftskammer Liezen und Funktionär in Österreichische Volkspartei (ÖVP) werden. Franz Murer war ein hoch angesehener Mann. Bis zu seinem Tod 1994.
Der Regisseur und Drehbuchautor Christian Frosch meinte dazu in einem Interview anlässlich der Premiere im Rahmen des Filmfastvals „Diagonale“:
„Österreich hat keine Seele und keinen Charakter. Österreich besteht aus Tätern, Zuschauern und Opfern. Mich interessierte beim Murer-Kriegsverbrecherprozess weniger, zum wiederholten Male die Verbrechen des NS-Regimes nachzuerzählen, sondern genau hinzusehen und zu verstehen, wie sich die vom Wesen her grundsätzlich verschiedenen Gruppen (Täter, Opfer und Zusehende) in der Republik Österreich darstell(t)en. Das Spannende ist, dass man hier sehen kann, wie das österreichische Nationalnarrativ funktioniert(e). Es basiert keineswegs auf Verdrängung. Es wurde bewusst gelogen, verschleiert, verbogen und gesteuert. Nur so konnte man Täter zu Opfern machen und die Opfer zu den eigentlich Schuldigen erklären. Diesem Prozess lag kein seelischer Defekt zugrunde, sondern Kalkül. Wir müssen uns endgültig von der Vorstellung verabschieden, dass der Patient Österreich nur die Fakten in sein Bewusstsein integrieren muss, um den Heilungsprozess einzuleiten. Die Tatsachen waren und sind bekannt“.
Quelle: Diagonale – Eröffnungsfilm 2018: Murer – Anatomie eines Prozesses
Auszug aus einer Filmrezension:
„…Er (Anm.: der Regisseur Christian Frosch) zeichnet das Bild eines Landes, das nicht nur viele Jahre nach dem Dritten Reich noch immer braunes Gedankengut in sich herumträgt, geradezu stolz, sich vor der eigenen Verantwortung drückt, sich sogar als reines Opfer der Deutschen positionieren will. Und als Opfer von internationalen Verschwörungen, die gemeinsam mit dreisten Lügen unbescholtenen Bürgern das Leben zur Hölle machen…“.
Quelle: film-rezensionen.de
Der Film kann bei folgenden Streamingdiensten geliehen oder gekauft werden:
Trailer zum Film:
Im Gespräch mit Regisseur und Filmautor Christian Frosch:
Rosen für den Mörder: Die zwei Leben des SS-Mannes Franz Murer (Buch):
Autor: Johannes Sachslehner
Format: Hardcover und E-Book
Seitenanzahl: 256
Verlag: Molden Verlag
Auflage: 1 (Oktober 2017)
ISBN: 978-3956691621
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Klappentext:
Das Sachbuch zum aktuellen Kinofilm: MURER – ANATOMIE EINES PROZESSES
Er ist zum charakterlich hochstehenden Führer auserkoren und wird doch nur zum skrupellosen Handlanger des Judenmordes: Der steirische Bauernsohn Franz Murer, ausgebildet auf der NS-Ordensburg Krössinsee, errichtet im Ghetto von Wilna eine wahre Herrschaft des Schreckens. Seine Brutalität und sein Sadismus sind gefürchtet, Frauen und Kinder bevorzugte Opfer. Der Mann, der Tausende Juden ungerührt in den Tod schickt, will nach dem Krieg von diesen Verbrechen nichts mehr wissen, der Staatsvertrag rettet ihn vor25 Jahren Zwangsarbeit, zu der ihn ein Militärgericht in Wilna verurteilt. Sein Prozess vor dem Landgericht Graz wird 1963 zum Skandal …
Weiterführende Links zum Fall Murer:
- Lukas Nievoll (2021): „Jüdische Zeugenschaft“. Aspekte des Umgangs mit Holocaust-Überlebenden am Beispiel des Prozesses gegen Franz Murer 1963 in Graz. Zeitgeschichte, 48, 2 (2021). 207ff.
- Franz Murer: Der Weg zum Schlächter von Vilnius (GRIN-Verlag)
- Schulmaterial zum Film von Christian Frosch (PDF)
- Wikipedia
- Spiegel
- Süddeutsche Zeitung
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